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Urbanes Kulturerbe in St. Moritz

Mit seinen knapp 5.000 Einwohner*innen ist St. Moritz statistisch gesehen ein Dorf (20211), jedoch weisen die dichte, hohe Bebauung, die Funktion als Tourismuszentrum im Engadin, die infrastrukturelle Ausstattung und die Internationalität des Ortes (2022 kamen mehr als 50% der Übernachtungsgäste aus dem weltweiten Ausland2) auf eine hohe Urbanität hin. Der Tourismus und St. Moritz sind eng verknüpft. Schon früh gab es Kurtourismus, der sich im 19. Jahrhundert im Zuge der Industrialisierung rasant entwickelte. St. Moritz gilt als Geburtstort des Wintertourismus und war Austragungsort für die Olympischen Winterspiele 1928 und 1948. Das touristische Angebot hat sich heute, mit einem immer mehr an Bedeutung gewinnenden Sommertourismus, weiter diversifiziert, und nur noch in der Nebensaison wird es etwas ruhiger in der Gemeinde.

Die touristische Entwicklung hat einen Siedlungsausbau in St. Moritz induziert, der zu einem völligen Verlust der bäuerlichen Identität des ursprünglichen Engadiner Dorfes geführt hat. Grand Hotels und große Villen aus dem Historismus neben diversen architektonischen Ausdrucksformen der Moderne und Gegenwart sowie notwendig gewordene ausgedehnte Verkehrsinfrastruktur ergeben für den ungeübten Betrachter ein zunächst nicht offensichtliches Bild von zu erwartenden Stadtstrukturen in den Schweizer Alpen.

Imposante Grand Hotels © Merit Koch
Imposante Grand Hotels © Merit Koch
Imposante Grand Hotels © Merit Koch
Imposante Grand Hotels © Merit Koch

Aber was erwartet der Tourist zu sehen? Ist St. Moritz eine gesichtslose Stadt in den Alpen oder ist doch urbanes Kulturerbe der Schweiz, der Region, der Gemeinde im baulichen Konglomerat der Stadt vorhanden? Wo ist dieses bauliche Erbe in St. Moritz zu finden, wie sichtbar ist es, wie ist es in der lokalen Bevölkerung verankert und inwiefern ist es von Interesse für solche Gäste, die primär auf Luxus- oder Sporttourismus ausgerichtet sind?

Das und viel mehr haben wir uns gefragt, als wir uns mit den Möglichkeiten touristischer Inwertsetzung von urbanem Kulturerbe in dem bereits sehr vielfältigen Tourismusangebot in St. Moritz beschäftigt haben. Wichtig zu beachten ist, dass urbanes Kulturerbe nicht nur das gebaute Kulturgut, sondern auch die immateriellen Traditionen von symbolischer bzw. identitätsstiftender Bedeutung für die Gemeinschaft umfasst.

In der Vorbereitung des Feldaufenthaltes haben wir Bildarchive durchkämmt, um zu verstehen, wie St. Moritz einmal ausgesehen hat. Eine Karte der Siedlungsentwicklung, erstellt aus einer Zeitreihe von topographischen Karten und Satellitenbildern, vorhandene nationale und kantonale Datenbanken zum Kulturerbe sowie die Kartierung des gebauten Erbes durch örtliche Architekten – alles erfasst in einem digitalen räumlichen Inventar im Geographischen Informationssystem (GIS) – bildeten die Grundlage für die vorgesehene Feldkartierung. Weitere Kriterien, wie der architekturhistorische Wert, das Alter des Objektes, die ursprüngliche und aktuelle Funktion eines Gebäudes, die Sichtbarkeit für einen ungeübten Betrachter und möglicherweise existierende Geschichten, die die Objekte zu erzählen haben, begleiteten uns bei unserer systematischen Entdeckungsreise durch St. Moritz mit einer letztendlichen Erfassung von 220 Objekten.

Der architektonische Mix in St. Moritz © Merit Koch
Der architektonische Mix in St. Moritz © Merit Koch

Neben der Kartierung führten wir sechs qualitative Interviews mit Expert*innen aus unterschiedlichen Bereichen: einem Architekten, einer Architekturhistorikerin, einer Touristikexpertin, einer Fremdenführerin, einer Dokumentationsbibliothekarin und einem Gemeinderatsmitglied. Die Gespräche haben uns intensive Einblicke in den Ort gegeben und wie mit dem urbanen Kulturerbe aus lokaler und tourismusplanerischer Sicht umgegangen wird.

Nach dieser intensiven zehntägigen Forschungsarbeit sind wir noch am Anfang unserer Ergebnisauswertung und können noch kein abschließendes Fazit ziehen. Hier sind dennoch ein paar Aspekte, die uns bisher aufgefallen sind:

  • St. Moritz verfügt über ein reiches urbanes Kulturerbe (ursprüngliches Engadinerhaus, Bausubstanz aus dem Historismus mit Bezug zum Kurtourismus/Wintertourismus, Chalets, moderne Architektur und Architektur der Gegenwart, Denkmäler), vieles ist für den ungeübten Blick nicht immer gleich zu erkennen, weil der Ort architektonisch sehr divers und v.a. stark überprägt ist.
  • Das urbane Kulturerbe in St. Moritz bietet Potential für die touristische Inwertsetzung. Angebote wie die “Open Doors Engadin” bieten einen idealen Ansatz, normalerweise nicht zugängliche Objekte kennenzulernen, und sollten zukünftig verstärkt angeboten werden. Auch ein diversifiziertes Angebot an Führungen kann ein breiteres Publikum ansprechen.
  • Der Ort lebt von seinen Geschichten, berühmten Persönlichkeiten, die einmal zu Besuch waren, sowie der erstaunlichen Geschichten des Alpentourismus und des Jetset. All das könnte Grundlage für eine erweiterte touristische Inwertsetzung sein.
  • Die Vermittlung vom Verständnis für urbanes Kulturerbe in der Bevölkerung führt zu einem stärkeren Zusammenhalt in der Gemeinde.
  • “Kultur ist der Schnee von morgen”, ein Zitat aus einem Interview mit einer Tourismusexpertin zeigt die wachsende Bedeutung einer Diversifizierung und Ausrichtung auf einen Ganzjahrestourismus abseits vom Wintertourismus.
St. Moritz Bad © Merit Koch

Merit Koch und Regine Spohner


1 Bundesamt für Statistik, Schweizerische Eidgenossenschaft (2022): Ständige und nichtständige Wohnbevölkerung nach institutionellen Gliederungen, Wohnort vor 1 Jahr, Staatsangehörigkeit (Auswahl), Geschlecht und Altersklasse, 2020-2022. https://www.bfs.admin.ch/news/de/2022-0467 (download: 30.08.2023)

2   Bundesamt für Statistik, Schweizerische Eidgenossenschaft (2023): Hotellerie: Ankünfte und Logiernächte der geöffneten Betriebe in 100 Gemeinden nach Jahr, Monat, Gemeinde und Gästeherkunftsland 2012-2023. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/tourismus.html (download: 30.08.2023)