16.-19.03.2020: Zurück in andere Realitäten
So war das alles nicht geplant ... Doch es kommt manchmal im Leben völlig anders als vorgesehen, leider nun in dramatischem Kontext. In den letzten Tagen schon fühlte es sich ziemlich surreal an: Zwei Tage nach unserer Einreise waren bereits erteilte indische Visa für Ausländer für ungültig erklärt worden, es kam niemand mehr rein. Beim abendlichen Lesen der Nachrichten erfuhren wir von rasant steigenden Infektionen und Todesfällen in Italien und Spanien. In Heinsberg, wo der Karneval zum Brandbeschleuniger der Ausbreitung des Coronavirus wurde, mehrten sich die Zahlen von Erkrankten. Und wir reisten durch Indien, scheinbar unbehelligt von dem, was in anderen Weltregionen zu eskalieren begann.
Scheinbar. Die überglücklich-ausgelassen gefeierte Hochzeit in Shimla, zu der einige Verwandte aus den USA und Kanada schon nicht anreisen konnten, die herzliche Umarmung meines Kollegen in Chandigarh – wir hatten uns drei Jahre lang nicht gesehen – ohne Hauch eines Zögerns. Doch abends zuvor im Park waren wir freundlich, doch merklich verhalten gefragt worden, wo wir herkämen – gefolgt von einer schnellen, durchaus peinlich-verängstigten Verabschiedung. Tags drauf standen wir vor den wachhabenden Soldaten am Kapitol-Komplex, die uns eröffneten, der Regierungsbezirk sei seit dem Morgen hermetisch abgeriegelt, ein Betreten, um die gewaltigen Baudenkmäler Le Corbusiers zu besuchen, unmöglich. Wir konnten andere Stätten seines Wirkens und von Architekten der indischen Aufbruchsperiode der 1960er Jahre ausgiebig erkunden, die Universität in Sektor 10, und die wuchtigen, zunehmend marode werdenden Ensembles von Sektor 17 – dem Geschäfts- und Handelszentrum von Chandigarh. Im aufkommenden Niesel-, später teils strömenden Gewitterregen standen die eigenwilligen, prachtvollen Villenkolonien und die üppigen Parks mit den bunten Tupfern der Spielplätze von Sektor 4 in ausdrucksstarkem Kontrast zum Brutalismus der Repräsentationsarchitektur. Auf den langen, regenvollen acht Kilometern Fußwegs zurück zum Hotel in Sektor 35 blieb es nicht aus, das Beobachtete nachdenklich zu betrachten …
Ich spürte die noch unsichtbare Welle förmlich auf uns zurollen. Wir waren ein Problem, und wurden es stündlich mehr. Im Hotel machte man beim Einchecken nun Fotos von uns, die Kontaktdaten wurden genau erfragt, die Reiseroute exakt aufgenommen, so unindisch. Routine, hieß es. Die Menschen um uns herum gingen auf Abstand. Wichtiger noch: Die Lage in Indien allgemein wurde stündlich spürbar mehr zu einem allgemeinen, einem zunehmend großen Problem.
Ein Kollege war mit seiner Gruppe in Maharasthra, wo die ersten höheren Erkrankungszahlen sich mehrten, vor zwei Tagen festgesetzt worden, in 14tägige Quarantäne, strikt kontrolliert. Erste indische Bundesstaaten schränkten den Bahnverkehr ein, drastisch sank die Zahl der Flüge.
Ein sich nun als günstig herausstellender Umstand der Reiseplanung sah vor, dass unsere Route von Chandigarh nach Gurgaon/Gurugram – nicht nur benachbart von Delhi, sondern direkt nahe dem internationalen Flughafen – führen sollte. Das Zeichen zur Wende unserer Reise.
Sicher, wir wären durchaus noch mit dem Nachtzug, wie geplant, nach Varanasi gekommen, in die Stadt der Sterbenden und Toten, des Lichts und der Heiligkeit. Doch und dann? Bodhgaya noch zu erreichen schien mir höchst unwahrscheinlich – und nun wirklich einfach nur noch riskant. Wie dann von dort, der knapp 40.000 Seelen zählenden Kleinstadt, zurückkehren, bei drohender Quarantäne, nahezu fehlender gesundheitlicher Versorgung, rapide abnehmender Zahl verfügbarer Flüge, schwindender Entscheidungsoptionen?
Schnell konnte meine Eischätzung der Lage meiner Gruppe beim frühen Frühstück erklärt werden. Sehr bald war der erste Schock vom nun angesagten Abbruch der Exkursion verdaut, der letzte innere Widerstand – ein schwaches emotionales Aufflackern des „wir wollten doch nach Varanasi, nach Kolkata …“ – in rationaler Betrachtung erstickt. Die Entscheidung wurde einvernehmlich mit der Gruppe getroffen. Klare Überlegungen, beherzte Umsetzung, Fahrt zum Flughafen, um die Umbuchung der Flüge im mitternächtlichen Flughafen – an dem die Airlines aus Europa um diese Zeit normalerweise eintreffen – direkt vorzunehmen. Weit gefehlt. Da war niemand zum Umbuchen im landesbesten Flughafen. Nirgends. Nun war sofortiges Handeln angesagt: Buchen, jetzt, sofort, egal was. Nach zwei Stunden Hektik: geschafft. Hätten wir geahnt, dass ein Teil dieser Flüge tags drauf gar nicht starten würde, hätten wir wohl nicht so ruhig geschlafen in dieser Nacht.
Die Buchungen in der Tasche, wartete ein Abschiedsgeschenk auf uns: Ein herrlicher Tag, strahlend, im friedlichen, nahezu menschenleeren Taj Mahal. Als wäre es nur für uns. Noch geöffnet für die letzten Besucher. Tags drauf wurde es geschlossen – ich fürchte für Monate!
Für uns war es ein großes Geschenk, Indien, seine Menschen, Städte und Kultur, ein paar wenige, doch hochintensive Tage bereist und erlebt haben zu dürfen. Wir dürfen dankbar zurückblicken.
Die Rückkehr könnte man schnell zusammenfassen: Hektische Lage im Airport im Run auf die letzten, schon nicht mehr normalen Flugverbindungen. Flüge wurden gecancelled, andere bekamen keine Starterlaubnis. Flugneu- und nach Flugstreichung erneute Flugneuneubuchung waren die Folge, teuer, teurer, aber alternativlos. Durch zahlreiche individuell gebuchte Rückflüge konnte die Gruppe von Delhi nach Deutschland zurückkehren, am Abend des 16.3.2020 der erste Teilnehmer, am 17.3.2020 das Gros der Gruppe, am 18.3.2020 nachts um 4:30 h die letzten beiden Teilnehmerinnen. Geschafft. In mehrfacher Hinsicht J.
Natürlich konnte man ahnen, was sich entwickeln würde. Noch nie hatte ich deshalb so ausführlich für eine Exkursion die Sicherheitsbelehrungen intensiviert und für unsere Gruppe gesundheits- und risikoorientierte Merkblätter in die e-Plattform gesetzt. Darin zeigt sich der Unterschied zwischen antizipierender Vorsorge und dann faktisch eintretender Realität. Eine derart schnelle Zuspitzung der Lage war nicht vorhersehbar. Bei der sehr tatkräftigen und konstruktiv agierenden Gruppe aber konnten schnell gute Lösungen gefunden werden.
Ein laaaaaaaaanger Rückflug, acht Stunden Aufenthalt in Abu Dhabi, nach Amsterdam. Im Flughafen, schnell das Gepäck gegriffen, irgendeine Zugverbindung würde es schon nach Köln geben. Menschenleere Abteile und Bahnsteige, die Schaffnerin grinste „Er zijn vandaag geen tickets gecheckt“. Ein sonnendurchfluteter kalter Vorfrühlingstag – was für ein Kontrast zu den engen Gassen, der rasanten Verstädterung und den Menschenmassen in Indien.
Vorsorglich verordnete die Universitätsleitung für unsere Gruppe ein einstweiliges Hausverbot für die Universität und häusliche Quarantäne von 14 Tagen. Die hielten wir vom 19.3. bis 1.4.2020 ein und wendeten uns einer sinnvollen Beschäftigung zu: der Fortführung der Exkursion.
Nun umstandsgedrungen als eExkursion. Da stand eine Menge auf dem „akademischen Speiseplan“: Urbanisierungsprozesse in Gurgaon/Gurugram, Varanasi, Bodhgaya, Kolkata, urbane Governance und Informalität, public housing, Formen der Slumsanierung, smart city-Programme, globalisierte Megaurbanisierung und Stadtmodelle in Indien – um nur ein paar Stichworte zu nennen. Der 19. März: Ein Tag Vorbereitung, Programm neu aufgebaut, Technikcheck, und los ging es ...
Frauke Kraas