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24.03.2020: e-Exkursion Acht-Städte-Vergleich, Synthese

IGC 2012 - Keynote #4 by Surinder Aggarwal © IGC Cologne

Acht Städte Indiens – eine kleine Zahl angesichts von tausenden Städten in Indien. Laut dem Government of India, Ministry of Housing and Urban Affairs, hat Indien 7935 Städte (basierend auf der bisher letzten Volkszählung 2011); 2001 waren es noch 5161 Städte. Darunter befanden sich 53 Metropolen mit mehr als 1 Mio. Einwohnern und 465 sog. Class I Cities mit mehr als 100.000 Einwohnern (2011). Die größten drei Megastädte (d.h. mit mehr als 5 Mio. Einwohnern) bzw. besser: megaurbanen Agglomerationen waren 2011 Greater Mumbai mit 18,42 Mio. Einwohnern, Delhi mit 16,31 Mio. und Kolkata mit 14,11 Mio. Einwohnern[1].

Warum eigentlich wurden genau diese acht Städte (Delhi, Shimla, Chandigarh, Gurgaon/Gurugram, Agra, Varanasi, Bodhgaya und Kolkata) für die Exkursion ausgewählt?

Dies lässt sich zusammengefasst wie folgt erläutern:

  • Es war mein Ziel, dass wir zum einen sehr unterschiedliche geschichtliche Entwicklungspfade und aktuelle Urbanisierungsdynamiken kennenlernen sollten – etablierte und alte Städte: Varanasi soll 1200 v.Chr. gegründet worden sein. Lange vor der Erbauung des Taj Mahal entstand Agra,  Shahjahanabad bzw. Old Delhi wurde von 1639 an errichtet. Ein Schwerpunkt lag auch auf der kolonialzeitlichen Urbanisierung, wie sie in Kolkata und Delhi mit den großen Verwaltungsarealen und architektonischen Repräsentationsgebäuden zu verstehen ist. Auch die besondere Stadtanlage und Funktion der britischen Sommerhauptstadt und hill station Shimla steht in der britischen Tradition. Mehrfach wurden ganz neue Städte errichtet, etwa das 1911 als neue Hauptstadt von Britisch-Indien großflächig neu geplante New Delhi, oder die von 1966 an gebaute neue Hauptstadt des Punjab, Chandigarh, sowie das nach der Liberalisierungspolitik 1991 in rasanter Entwicklung entstandene Gurgaon/Gurugram. Alle drei sind nach sehr unterschiedlichen Konzepten errichtete und von unterschiedlichen Akteuren geprägte neue Städte.
  • Zweitens wurden aktuelle Urbanisierungsprozesse erläutert und diskutiert – massive Stadtexpansion durch Industrialisierung (Delhi, Kolkata) und Migration (Delhi, Chandigarh, Kolkata), Innenstadtrevitalisierung (Kolkata), Umgang mit urbanem Kulturerbe (Delhi, Shimla, Agra, Bodhgaya). Zentrale Urbanisierungsprobleme wurden behandelt, darunter etwa die enormen Luft-, Wasser-, Boden-, Müll-, Lärm-Verschmutzung (in allen Städten zu beobachten – aber auch positive Beispiele von Lösungen, wie etwa in Shimla und Chandigarh). Massive Überlastungsprobleme der Infrastrukturen zählen dazu, aber auch überall zu sehen Projekte zur Verbesserung, wie etwa die Metros in Delhi oder die Straßenbahn in Kolkata. Ein besonders Problem stellen mangelnde Ver- und Entsorgungseinrichtungen dar, etwa die weitflächigen Latrinenfelder im urban fringe von Delhi oder die unzureichende Gesundheitsversorgung, – aber auch zahlreiche positive Entwicklungen gibt es, wie die smart sanitation city-Projekte etwa in Delhi und Shimla. Probleme von Slum-Aufwertung und Hilfs- wie Selbsthilfeprojekten (in Kolkata) sowie die Frage von privaten und public housing-Komplexen (in Delhi und Kolkata) wurden diskutiert. Die Bedeutung von Religion und Pilgerwesen (Varanasi, Bodhgaya) und urbanem Tourismus (Shimla, Agra, Bodhgaya) für die moderne Stadtentwicklung konnte verdeutlicht werden.
  • Drittens standen Fragen zukünftiger Stadtentwicklungsoptionen zur Diskussion: Welche Elemente einer nachhaltigen Stadtentwicklung sind zu beachten, die gleichzeitig ökologische (wie etwa in Chandigarh), ökonomische (wie in Delhi und, eingeschränkter, in Kolkata), soziale (z.B. in Shimla und Kolkata) und kulturelle (wie in Varanasi und Bodhgaya) Kriterien einschließt? Welche Bedeutung haben staatliche und privatwirtschaftliche Förderinitiativen (an den Beispielen von Chandigarh und Gurgaon/Gurugram zu analysieren), auf lokaler wie nationaler Ebene (wie z.B. das JNNURM- oder das aktuelle smart-city-Programm) – und welche Chancen und Risiken bergen sie jeweils?

Natürlich hätten wir andere und weitere Städte wählen können. Im Vorfeld waren Jaipur, Amritsar, Leh und Dharamsala sowie Lucknow/Lakhnau, Patna, Darjeeling und Puri als weitere bzw. alternative Exkursionsziele überlegt, aber teils schon wegen der zusätzlich zu überwindenden Entfernungen verworfen worden.

Wie lassen sich die Entwicklungen in den acht Städten einordnen in die allgemeinen Urbanisierungsprozesse in Indien und Entwicklungsländern sowie zentrale globale Urbanisierungstrends?

Zur Beantwortung dieser Frage zogen wir neben ausgiebiger Lektüre von Fachliteratur auch einen Vortrag hinzu, der im Internet zur Verfügung steht. Eine der zentralen Keynote-Vorlesungen auf dem International Geographical Congress, dem Weltgeographentag 2012 an der Universität zu Köln, widmete sich den weltweiten Urbanisierungsprozessen. Prof. Dr. Surinder Aggarwal (von der Delhi University)[2] hatte seinen Vortrag unter den Titel gestellt: "Emerging global urban order and challenges for harmonious urban development". Zu Beginn regt er zum Nachdenken darüber an, dass Urbanisierung – oft negativ gesehen und bewertet – neben Problemen auch positiv verstanden werden sollte: Städte bringen Innovationen, Kreativität, Arbeitsmöglichkeiten, ermöglichen moderne Bildung und Gesundheitsfürsorge, sie sind Labore für neue Wege und Lösungen. Und wurde klar: Mit neuen Ansätzen und Programmen der Entwicklungszusammenarbeit in Städten und für städtische Bevölkerung ist es möglich, Städte nachhaltiger, zumindest weniger nicht-nachhaltig zu gestalten. Hierzu gehören etwa Programme zur nachhaltigen, integrierten Stadtentwicklung, Kampagnen wie Bildung für Nachhaltigkeit in Städten und Initiativen zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts von Nachbarschaften sowie zur Beteiligung (Partizipation) der Bewohner in ihren Quartieren. Sogenannte Best- oder Good-Practice-Beispiele finden sich in hoher Zahl auch für Indien[3]; zahlreiche dieser Beispiele haben wir auf unserer Exkursion und e-Exkursion sehen, verstehen und diskutieren können.

Uns wurde, im Kleinen wie im Großen, in Anschauung und Diskussion, deutlich, dass Städte, Metropolen und Megastädte der Schlüssel zur Umsetzung von Nachhaltigkeitsprinzipien sind. Und wir verstanden, dass in den Städten und durch gezielte Urbanisierungspolitik, gemeinsam im Dialog mit den städtischen Bewohnern eine weltgeschichtlich einmalige Chance besteht, die enorme transformatorische Kraft der Städte hin zu größerer Nachhaltigkeit zu nutzen. Erfolgreiche, nachhaltige Stadtentwicklungsmodelle und ihre Weiterentwicklung auf der nationalen und regionalen Ebene kann im Zuge einer urbanen Transformation[4] und in Verbindung mit der auf dem dritten Weltsiedlungsgipfel, Habitat III 2016 in Quito veröffentlichten New Urban Agenda[5] gelingen.

Wer mag, kann diese und weitere Fragen nun im beginnenden Sommersemester in der Vorlesung „Stadtentwicklung in Asien“ bei uns am Institut weiter vertiefen ….

Unsere Exkursion und e-Exkursion ist – trotz der Tatsache, dass sie anders geplant war und sich durch die Corona-Pandemie in unvorhersehbarer Weise entwickelte – zu einem guten Ende gebracht worden. Die Studierenden waren hochengagiert und diskussionsfreudig, behielten bei anspruchsvollem, dichtem und vollem Programm beeindruckende Leistungsbereitschaft und Flexibilität, und sie waren nach gut bewältigtem Rückkehrstress auch im e-Exkursionsteil sehr konzentriert und lernwillig bei der Sache. Starker Gruppenzusammenhalt, ruhig-souveräne Überlegung in schwierigen Situationen, gute Stimmung und hohe intrinsische Motivation sind die beste Voraussetzung für gemeinsame Lehre. Wir freuen uns schon jetzt aufs nachzuholende Abschlussessen, mit gutem indischen Essen und Chai, und behalten unseren Wunsch fest im Auge, die uns bisher entgangenen Exkursionsziele zu einem späteren Zeitpunkt, gerne gemeinsam, zu bereisen …

Frauke Kraas


[1] Alle Angaben: Government of India, http://mohua.gov.in/cms/number-of-cities--towns-by-city-size-class.php

[2] Prof. Dr. Surinder Aggarwal: "Emerging global urban order and challenges for harmonious urban development" (https://www.youtube.com/watch?v=raGL1i_J-VM). Zum Kongress des International Geographical Congress (IGC) Cologne 2012 siehe: http://www.igc2012.uni-koeln.de/

[3] Etwa: https://www.orfonline.org/research/indias-urban-challenges-recommendations-for-the-new-government-2019-2024-52148/, https://www.weforum.org/agenda/2019/01/india-urbanization-why-the-world-should-watch/, http://www.bmz.de/en/publications/type_of_publication/information_flyer/information_brochures/Materialie237_Information_Brochure_3_2014.pdf

[4] WBGU – Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (2016): Der Umzug der Menschheit: Die transformative Kraft der Städte. Berlin. https://www.wbgu.de/fileadmin/user_upload/wbgu/publikationen/hauptgutachten/hg2016/pdf/wbgu_hg2016.pdf

WBGU – Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (Hrsg.) (2016): Der urbane Planet - Wie Städte unsere Zukunft sichern. Berlin

https://www.wbgu.de/fileadmin/user_upload/wbgu/publikationen/comics/comic_2016/Der_urbane_Planet_160920_web.pdf

[5] http://habitat3.org/the-new-urban-agenda/