Energie aus den gewaltigen Kräften der Natur
In einer Wohnung staut sich die warme Luft. Die Heizung runterdrehen? Fehlanzeige! Hier tut es keinem weh, die Fenster aufzureißen und die Heizung aufgedreht zu haben. Um steigende Energiekosten müssen sich die IsländerInnen nun wirklich keine Gedanken machen. Was in Deutschland unvorstellbar wäre, ist hier auf Grund der klimatischen und geothermischen Gegebenheiten möglich: Die Straßen der Hauptstadt Reykjavík werden geheizt. Die überdimensionale Fußbodenheizung hält die Straßen auch im tiefsten Winter eisfrei. Paprika und Südfrüchte können hier in dem kalten Klima problemlos wachsen, wenn sie in den beheizten Gewächshäusern von Flúðir Sveppir angebaut werden. 99,9 % des verbrauchten Stroms wird durch erneuerbare Energieformen generiert (72 % Wasserkraft, 28 % Geothermie). Auch der Wärmebedarf der IsländerInnen wird zu über 90 % durch geothermale Energie gedeckt.
Auf unserer Reise konnten wir sehen, in welchem Maße die Energie aus der Natur nutzbar gemacht wird. Ein kurzer Auszug aus einem Reisetagebuch macht deutlich, wie der Mensch in die Natur eingreift, um die Energie nutzbar zu machen:
„Tag 2: Wir verlassen den größten Wald Islands – den Hallormsstaður –, um in das raue Hochland zu fahren. Die Landschaft verändert sich. Nachdem das satte Grün der Wiesen und Moose gestern noch alle Blicke auf sich gezogen hatte, ist die Vegetation heute nur noch sehr schwach ausgeprägt. Stundenlang fahren wir durch die karge Vulkanlandschaft. Das Grau der Basalte und Schwarz der Lapilli und der Asche ist jetzt allgegenwärtig. Die Straße wird immer schlechter. Häuser sehen wir schon lange nicht mehr. Flüsse werden ab jetzt mit unserem Feuerwehrtruck „Maggie“ durchfahren. Brücken scheinen sich hier nicht zu lohnen – einfach zu wenig Verkehr. Die Infrastruktur ist auf ein absolutes Minimum reduziert. Wir sind jetzt wohl endgültig in die zivilisationsferne Natur Islands eingedrungen – über eine Woche wird sich das wohl auch nicht ändern. Nach weiteren Stunden auf der holprigen Piste kreuzt eine asphaltiere Straße. Haben wir uns verfahren? Wir wollten doch weiter ins Hochland. Ein Schild gibt uns einen Hinweis: Hier geht es zum Kárajúkarstaudamm. Dieser ist offensichtlich an das Straßensystem angebunden. Wir fahren um einen Vulkan herum und sehen plötzlich, was sich vor dem Kárajúkarstaudamm verbirgt. Ein riesiger Stausee ist zu sehen. Der Reiseführer erklärt, dass er eine Fläche von 57 km2 hat. Es scheint alles unwirklich zu sein. Erst fahren wir stundenlang durch die menschenfeindliche Einöde und mit einem Mal das! Der Staudamm – den wir mit den Autos überqueren – ist gewaltig. Das Wasser stürzt von hier viele Meter in die Tiefe.“
Der Kárajúkarstaudamm wurde 2007 fertiggestellt – für Kosten von über 1 Milliarde Euro. Eines der größten Wasserkraftwerke Europas ist angeschlossen und erzeugt 690 MW. Der gesamte Strom wird genutzt, um ein Aluminiumkraftwerk (von der amerikanischen Firma ALCOA) im Osten der Insel zu versorgen. Das Projekt wurde sehr kritisch diskutiert, da der Eingriff in die Natur durch die Aufstauung des Flusses enorm ist. Die ehemalige Naturfläche wurde unter anderem von Rentieren zur Überwinterung und von mehreren Vogelarten zum Brüten genutzt.
Die gewaltigen Kräfte der Natur werden während unserer Reise immer wieder deutlich. Wasserfälle, reißende Flusssysteme, Geysire, heiße Thermalquellen und erkaltete Lavaströme machen uns immer wieder ehrfürchtig vor den natürlichen Kräften.
Als wir an Tag 12 in Richtung Reykjavík unterwegs sind, kommen wir auch an dem gigantischen Kraftwerk Nesjavellir vorbei. Es versorgt die Hauptstadt mit Wärmeenergie und erzeugt zudem 120 MW Strom. Es ist eines von insgesamt sechs Geothermiekraftwerken auf der Insel. Seit 1920 nutzen die IsländerInnen die Erdwärme so im großen Stil. Dicke Betonrohre leiten das heiße Wasser entlang der Straße in Richtung Reykjavík. Der Wärmeverlust ist dabei überschaubar.
Ohne Frage ist dieser Energieüberfluss auch ein Standortfaktor für viele energieintensive Industrieunternehmen – wie beispielsweise ALCOA. Die Herstellung von Aluminium benötigt sehr viel Energie, weshalb es sich rentiert die Produktion nach Island outzusourcen. Die Folgen für die Umwelt wurden in politischen Diskussionen den wirtschaftlichen Interessen eher untergeordnet, sodass Projekte wie der Kárajúkarstaudamm für die Stromerzeugung eines ALCOA-Werks realisiert wurden.
Emil Klippert