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Rund um Ipoh und den Zinnbergbau

Am vierten Tag unserer Exkursion stand für uns eine der längsten Touren unserer Reise an. Von Penang aus sollte es Richtung Südosten ins Landesinnere gehen, mit dem Ziel Tanah Rata in den Cameron Highlands (eine kurze „Google Maps“ – Anfrage ergab 4:35 h Fahrzeit für die 245 km). Aber ein „reiner Reisetag“ ohne bemerkenswerte Stops?! Wohl kaum auf dieser Exkursion! Also machten wir uns daran, Geschichte und Gegenwart einer Region kennenzulernen, in der kleinräumlich konzentriert die enormen wirtschaftlichen und sozialen Dynamiken der jüngeren Geschichte Malaysias (seit ca. Mitte des 19. Jhd.) in ihrer nahezu vollständigen Bandbreite erkennbar werden.

Dabei handelte es sich um die Region um Ipoh, der Hauptstadt des malaysischen Bundesstaates Perak und eine der größten Städte des Landes. Ipoh liegt ungefähr auf halber Strecke zwischen den malaysischen Metropolen Kuala Lumpur und Penang und ist über einen der meistbefahrenen Highways des Landes mit beiden Städten verbunden. Auf dem Weg bekamen wir einen ersten „Vorgeschmack“ auf die landschaftliche Monotonie entlang malaysischer Highways: riesige Ölpalmenplantagen, die in jede Himmelsrichtung unsere Blicke bestimmten. War es zuvorderst Kautschuk, so ist bereits seit einigen Jahrzehnten Palmöl das Rückgrat der malaysischen Agrarwirtschaft, wovon die kilometerweiten Monokulturen Zeugnis geben. Gelegentlich wurde dieses Bild von kleineren Anbauflächen von Teakbäumen unterbrochen, aus denen das so wertvolle Teakholz gewonnen wird. Je weiter wir uns von der Küste entfernten, desto größer wurden die Veränderungen im Landschaftsbild: Wir näherten uns der zentralen Gebirgskette, die wie eine Trennlinie zwischen dem West- und Ostteil der malaiischen Halbinsel verläuft. Die Landschaft wurde erkennbar hügeliger, und anstatt der vorher dominierenden Ölpalmenplantagen bot sich uns nun ein weitaus abwechslungsreicheres Bild: Die Gegend um Ipoh, das sogenannte Kinta Valley (nach dem gleichnamigen Kinta River), wird geomorphologisch von ausgeprägten Karstlandschaften bestimmt. Zwischen den begrünten Karstinselbergen eröffnet sich ein bizarrer Anblick: abgetragene Hänge, kleinere und größere Seen, Halden und klaffende Gruben. Eine zutiefst menschlich überprägte Landschaft – die Schlussfolgerung: Hier wurde oder wird Bergbau betrieben! Wir sollten schon zeitnah erfahren, dass die Vergangenheitsform im vorangegangenen Satz die passendere darstellt...

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© Frauke Kraas
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© Frauke Kraas

Das Kinta Valley gehört zu den ertragreichsten Zinnlagerstätten weltweit, doch erst seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wurde Zinn im Zuge des „tin-rush“ in Malaysia im großen Stile abgebaut. Der terminologische Vergleich mit den ungleich bekannteren „gold-rush“-Ereignissen in den USA rührt nicht von ungefähr: Ähnlich wie beim amerikanischen Pendant, führte die Entdeckung der riesigen Zinnvorkommen auf der malaiischen Halbinsel zu einer rasend schnellen Erschließung von Gebieten, in denen das Leben der Einheimischen bis dahin kaum mit dem Lauf der Welt in Berührung getreten war. So waren es vor allem Immigranten aus Südchina, die den kaum erträglichen (Über-)Lebensbedingungen ihrer Heimat entflohen und auf der Suche nach Arbeit und Nahrung zu Hunderttausenden ab ungefähr Mitte des 19. Jahrhunderts in das von den Briten kolonial verwaltete Malaya auswanderten. Bei den chinesischen Immigranten handelte es sich überwiegend um junge Männer, die zu körperlich schwerer Arbeit verpflichtet wurden, wie etwa im Bergbau oder auf Plantagen. Der frühe Zinnbergbau in Malaysia erforderte nur einen geringen technologischen Einsatz, dafür jedoch umso mehr den Einsatz menschlicher Arbeitskraft, sodass in den ertragreichen Tälern um die Flüsse Kinta und Klang (Kuala Lumpur) das Zinn „mit bloßen Händen“ und einfachsten Hilfsmitteln abgebaut wurde. Je nach Lage der aktuellen Abbaugebiete errichteten die chinesischen Arbeiter in kürzester Zeit neue Infrastrukturen aus den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, aus denen sich einerseits bis in die Gegenwart bestehende Städte und Siedlungen entwickelten (so z.B. Ipoh) oder die andererseits wieder vollständig zurückgelassen wurden, weil kein weiterer wirtschaftlicher Nutzen bestand. War der Zinnabbau in dieser Phase stets der vordringlichste Antrieb jedweder Aktivitäten, wurde dieser umrahmt von der Herausbildung wirtschaftlicher und sozialer Strukturen, denen eine eigenständige Dynamik inhärent war. Die neu entstandenen Siedlungen zogen Kaufleute und Handwerker an, und unter den Emigranten entstanden einflussreiche und potente „Geheimgesellschaften“, die soziale Strukturen und Normen aus den jeweiligen chinesischen Heimatregionen unter den Immigranten implementierten. Die Geheimgesellschaften erreichten einen solchen Status, dass sie selbst bedeutsame Akteure in der komplexen politischen Gemengelage im ausgehenden 19. Jahrhundert auf der malaiischen Halbinsel wurden, in der die britische Kolonialverwaltung ihre Machtbereiche stetig erweiterte und die malaiischen Sultane untereinander um Teilhabe und Kontrolle am wirtschaftlichen Erfolg rangen. In Konsequenz wurde die malaiische Halbinsel bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zum weltgrößten Exporteur von Zinn.

© Niklas Elverich

Der Zinnbergbau steht stellvertretend für den immensen wirtschaftlichen Aufstieg, den Malaysia in den letzten gerade einmal 150 bis 100 Jahren vollzog, und die tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbrüche, die damit einhergingen. Die Urbanisierung des malaysischen Inlandes erfolgte schlichtweg nur, weil der Zinnbergbau etabliert wurde. Straßen- und Eisenbahnnetze des Landes liefern bis heute Zeugnis darüber ab, dass der Ausbau der Infrastruktur sich vor allem an wirtschaftlichen Erfordernissen orientierte, ergo Verbindungen aus den Zinnabbaugebieten entlang der Flusstäler hin zu den Seehäfen an der Westküste. Ipoh erfreute sich als eines der Zentren des malaysischen Zinnbergbaus einer herausragenden wirtschaftlichen Stellung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zeitweilig wurde die Stadt gar als „City of Millionaires“ bezeichnet. Es waren vor allem Mineninhaber und -manager chinesischer Herkunft, die die Geschäfte organisierten und die wirtschaftlichen Erfolge forcierten. Bis in die Gegenwart ist die Bevölkerung Ipohs mehrheitlich ethnisch chinesischer Abstammung. Architektur, Küche, religiöse und kulturelle Gebräuche zeugen vom reichen Erbe der Stadt. Doch die Geschichte Ipohs und seiner Umgebung ist keine des ungebrochenen Wachstums: Der einstmalig so einträgliche Zinnbergbau ist beinah vollständig zum Erliegen gekommen. Die Zinnpreise am Weltmarkt kollabierten Anfang der 1980er-Jahre, der Zinnabbau in Malaysia wurde drastisch und ohne Puffer gestoppt. Ipoh, wirtschaftlich beinah monostrukturell vom Zinnbergbau abhängig, traf diese Entwicklung äußerst hart. Asynchron zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Malaysias, durchlief Ipoh eine Periode des wirtschaftlichen Abschwungs, und die damit einhergehenden Begleiterscheinungen wurden auch dort sichtbar: hohe Arbeitslosigkeit, Bevölkerungsverlust durch Abwanderung, abnehmende Kaufkraft und ein einsetzender Strukturwandel. Das Ende des Zinnbergbaus hat Ipoh mittlerweile überwunden, die Stadt ist heute wirtschaftlich breiter aufgestellt und profitiert unter anderem vom zunehmenden Tourismus. Ipoh wird mitunter trotz seiner Größe noch als eine Art „Geheimtipp“ in Malaysia gehandelt, da die Stadt trotz großer Potenziale noch nicht derart touristisch erschlossen und überprägt worden ist wie etwa die Welterbestätten George Town & Malakka, weshalb das Erlebnis gerade auch wegen der wechselvollen Vergangenheit als „authentisch“ eingeschätzt werden kann. Uns begegnete eine breite Palette an Street-Art, Cafés, Restaurants und weiteren Attraktionen. Touristen waren überall um den Altstadtkern präsent, ohne dass die Stadt einen allzu überlaufenen Eindruck erweckte.

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  • © Dorina Kley
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Vor unserer Stippvisite in Ipoh konnten wir allerdings noch zwei weitere bemerkenswerte Orte in der Umgebung besuchen, die unseren Blick auf den Aufstieg und Niedergang des malaysischen Zinnbergbaus und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Wirtschafts- und Siedlungsstrukturen schärfen sollten: So besuchten wir die südlich von Ipoh gelegene „Tanjung Tualung Tin Dredge“, eine schwimmende Bagger- und Beförderungsanlage für den Zinnabbau. Die Anlage wurde im Zuge der zunehmenden Technologisierung im Bergbau in den 1930er-Jahren in Großbritannien gebaut, nach Malaysia verschifft und verblieb bis zum Ende des Zinnbergbaus 1982 in Betrieb. Es handelt sich dabei um die letzte intakte Anlage dieser Art von einstmals Hunderten in Malaysia und kann gegenwärtig als Industriedenkmal besichtigt werden. Zwar verfügt Malaysia weiterhin über große Zinnvorkommen, doch ein größer angelegter Wiedereinstieg in den Bergbau spielt aktuell keine Rolle – zumal der beinahe vollständige Abbau und Verkauf der einstigen „tin dredges“ zu einem massiven Verlust an technologischem Kapital und Knowhow führte, der sich kaum wieder einholen ließe.

Nach dem Besuch der tin dredge stand für uns ein Programmpunkt an, der einige Überraschungen zu bieten hatte: Wir besichtigten das Dorf Papan – eine einstmalig florierende „mining town“, die heute mitunter als „ghost town“ touristisch vermarktet wird. Wie die Exkursionsgruppe schnell feststellen sollte, ist die Bezeichnung Papans als „ghost town“ nicht ganz zutreffend, jedoch auch nicht völlig aus der Luft gegriffen: Seit dem Ende des Zinnbergbaus ist die Bevölkerung mehrheitlich abgewandert. Die Hauptstraße des Dorfs wird von einst prächtigen „shop houses“ gesäumt, die uns so oft auf unserer Exkursion begegneten und typisch für die Bauweise der vornehmlich chinesischstämmigen Immigranten vom ausgehenden 19. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert in Malaysia ist. Jedoch erwartete uns in Papan ein gänzlich anderer Zustand dieser Häuser als an anderen Standorten: Die meisten waren mehr oder weniger dem Verfall preisgegeben, und die Natur hielt dort Einzug, wo kein Mensch mehr die Bauten aufrechterhielt. Mancher fühlte sich an das ein oder andere Filmszenario erinnert, wenn man durch ein Loch in der Fassade einen ehemaligen Wohnraum betritt, in dem ein Baum sich seinen Weg durch den zermürbten Dachstuhl bahnt und Kletterpflanzen entlang der Innenwände wuchsen. Trotz dieser bestimmenden Szenerie konnte Papan auch mit einigen „eher lebendigen“ Aspekten aufwarten, die unsere Perspektive auf die „ghost town“ herausforderten: So sahen wir zwischen verfallenen Häusern eine Schule, die augenscheinlich erst vor Kurzem errichtet wurde. Manche Häuser schienen im Erdgeschoss bewohnt zu sein, während das darüberliegende Stockwerk scheinbar verfiel. Entlang der Hauptstraße überall parkende Autos zur rechten und zur linken, obwohl offenkundig keine Touristenmassen vor Ort waren. Tatsächlich leben noch einige Menschen in Papan, auch wenn man zunächst denken wollte, dass der Ort ausgestorben sei. Es wurde erkannt, dass der Ort ein gewisses touristisches Potenzial offenbart, allerdings bleibt es fraglich, inwiefern sich dieses (zum Wohle der Einwohner) kommerzialisieren ließe bzw. welcher Zustand bewahrt oder wieder hergestellt werden sollte. Bislang beschränkt sich die touristische Erschließung auf einige wenige Wegweiser und Hinweisschilder zur Geschichte des Ortes, die sich in einem Informationsraum befinden.

Am Ende dieses ereignisreichen Tages stand aber auch ein kleiner, wenn auch nur kurzzeitiger Abschied an: Wir ließen die liebgewonnene tropische Hitze der malaysischen Ebene erstmals hinter uns und begaben uns in die dann doch etwas kühleren (Cameron) Highlands, aber das ist wieder ein anderes Kapitel…

Fabian Stille