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12.03.2020: Das Gewitter im Himalaya und seine Lektionen

© Johanna Berresheim

Wie oft sprechen wir von den Lektionen, die uns bestimmte Lebenssituationen bescheren. Es können auch nur kleine Lehren sein, die wir nie vergessen werden und die entweder für uns persönlich gelten oder für uns als Teil einer Gruppe. Die meisten Lektionen, die das Leben für uns bereithält, entspringen unerwarteten Situationen und Konstellationen. In Shimla (12.02.2020), war einer dieser Tage. Einen so ereignisreichen und emotionsgeladenen Tag habe ich selten erlebt. Ein kleiner Teil dieses Tages davon war das Gewitter, welches unsere Sechsergruppe bei der Erkundung des Lower Bazaar erwischte. Kurz zum Hintergrund, warum wir uns trotz der Wettervorhersagen mit Starkregen und Gewitter überhaupt auf die steilen Hänge des Lower Bazaar begaben. Erstens sind wir natürlich top ausgestattete Geographiestudierende mit Regenschutz ohne Ende, nicht nur für uns selber, sondern auch für unsere Ausrüstung. Die meisten jedenfalls. Aus der Reihe tanzte ein umfunktionierter Müllsack als Regenschutz, der aber trotzdem seinen Dienst so gut es geht, erfüllte. Tatsächlich war der Regen aber das kleinste Problem. Zweitens motivierte uns unsere Neugier. Wir haben unsere Gruppen selbstständig um die Themen gebildet, wodurch jeder etwas genauer seinem persönlichen Interessensgebiet in der kleinen Gruppenarbeit nachgehen konnte. Wir haben uns mit dem Kontrast zwischen Upper und Lower Bazaar beschäftigt und erkundeten dafür mit Hilfe von Beobachtungen den Lower Bazaar, welcher im Unterschied zum Upper Bazaar alles andere als touristisch erschlossen ist und historisch schon immer nur von der indischen Bevölkerung bewohnt und bewirtschaftet wurde.

Der Upper Bazaar gilt als kolonialzeitlicher und damit britisch geprägter Touristenhotspot - heute sowie in der Kolonialzeit, als Shimla noch als Hill Station zur Erholung für die Briten und als Sommerregierungssitz fungierte, wenn es in der damaligen Hauptstadt Kolkata zu heiß für britische Regierungsgeschäfte wurde. Während wir unterwegs waren, hörte man immer wieder entfernte Donner und der Himmel zog sich verdächtig zu. Ein Gruppenmitglied hatte panische Angst vor Gewittern und kam an diesem Nachmittag somit an seine Grenzen, was absolut nicht verwerflich ist. Fast jeder von uns kam in der einen oder anderen Situation mal an seine eigenen, ganz persönlichen Grenzen. An diesem Tag hat es diejenigen getroffen, die größten Respekt vor Gewittern haben. Aber nun zu den kleinen Lehren, die wir an diesem Tag gelernt haben oder um es positiver zu formulieren: zu den Erfahrungen, die wir gemeinsam gemacht haben und die uns zusammengebracht haben.

1. Es ist immer gut sich an Orten aufzuhalten, wo es genug Unterstellmöglichkeiten gibt, im besten Fall auch einen guten Chai.

Als es richtig mit dem Gewitter losging und der Platzregen auf uns niederprasselte, waren wir alle, auch diejenigen, die dem Gewitter furchtlos gegenübertraten, heilfroh, dass der Lower Bazaar mit seinen zahlreichen kleinen Ladenlokalen, Geschäften und offenen Küchen genügend Unterstellmöglichkeiten bot. Die meiste Zeit verbrachten wir tatsächlich in einer kleinen offenen Küche. Dort hieß es buchstäblich: „Abwarten und Tee trinken“. Wir versorgten uns mit Chai und sprachen über unsere Beobachtungen und versuchten damit so gut es geht, unser sehr angespanntes Gruppenmitglied abzulenken. Das gelang uns zum Teil, und wir gaben unser Bestes. Die heimelige und gemütliche Atmosphäre sowie der gute und frische Chai versorgten uns mit der nötigen Energie.

2. Augen auf! – Unerwartete Eindrücke und Erkenntnisse entspringen oft unerwarteten Situationen

Wäre das Gewitter nicht gewesen, hätten wir bestimmt nicht so viele Ladenlokale von innen gesehen. Dadurch haben wir wichtige Einblicke in die Handelsstrukturen des Lower Bazaar bekommen. Die vielen internationalisierten Händler im oberen Teil des Lower Bazaars, aber auch die lokalen Lebensmittelhändler, die geclustert im unteren Teil des Bazaars zu finden waren. Zwischendurch mussten wir uns sogar im Weiterverarbeitungsraum eines Fischhändlers unterstellen, der gerade dabei war Fische zu köpfen und zu häuten. Mag für den einen oder anderen unserer Gruppe zunächst befremdlich gewesen sein, bot aber trotzdem interessante Einblicke. Egal wo wir uns unterstellten, wir waren immer die einzigen, die nicht Teil der lokalen Bevölkerung waren, was uns ebenfalls einen authentischen Einblick in das alltägliche Leben der indischen Bevölkerung ermöglichte.

3. „So, Aufi???“ – „Nein, nichts Aufi!!!“

Dieser kurze, aber prägnante Wortwechsel wird, denke ich, allen Beteiligten im Gedächtnis bleiben. Kurz nachdem die Aufbruchstimmung verkündet wurde, gab es einen erneuten lauten Donnerschlag und somit wurde protestiert. Was lernen wir daraus. Auch wenn ein Teil der Gruppe keine Gefahr mehr sieht und entspannt ist, muss das nicht für alle gelten. Ich denke, uns allen wurde bewusst, wie wichtig es für eine gute Gruppendynamik ist, ein gemeinsames Tempo zu finden, womit jeder leben kann, auch wenn es gilt, sich auch nur einer Person anzupassen. Eine Gruppe ist nur so stark wie der Einzelne. Vielleicht braucht man dann für gewisse Wege länger, aber dafür hat man auch mehr Zeit, Wahrnehmungen intensiver zu verarbeiten und einzuordnen. Man muss auch immer das Positive sehen.

4. In schwierigeren Situationen wächst und rückt man zusammen, ob man will oder nicht.

Dabei musste ich besonders an die Situation denken, wo wir uns alle in die offene Küche gezwängt, uns auf die schmalen Bänke gesetzt und erstmal Chai bestellt haben. In dem Moment hat man sich wegen der gemütlichen Atmosphäre und trotz oder gerade wegen des strömenden Regens auf der Straße total aufgehoben gefühlt. Es war zwar beengt, aber ich finde, wir haben trotzdem das Beste daraus gemacht, in der Hoffnung, unserem Gewittergegner mit Ablenkung und Chai ein bisschen Ruhe gönnen zu können, bevor es dann zu unserem nächsten Ziel weiterging. Das Gewitter ist, wie ich finde, ein gutes Symbol für Situationen, in denen jeder einmal individuell an seine Grenzen kommt, sei es ein Gewitter, Menschenmassen oder bettelnde Kinder, die nicht nachgeben. Mit seinen Grenzen geht jeder anders um, und auch die Gruppe muss lernen mit den Grenzen jedes Einzelnen umzugehen. Neben all den Inhalten, die man lernt und mitnimmt, ist auch das Zwischenmenschliche enorm wichtig und ein großer und sehr schöner Teil einer großen Exkursion, auf den ich definitiv nicht verzichten wollen würde.

Ramona Sordon