15.03.2020: Chandigarh – Vom Reißbrett in die Realität
Am 13. März ging es für uns weiter nach Chandigarh, eines der Ziele, auf das ich mich am meisten gefreut hatte. Die Entstehungsgeschichte von Chandigarh ist faszinierend und ich war besonders gespannt darauf, wie der theoretische Plan der Stadt in der Realität umgesetzt wurde, ob die Aufteilung der Stadt und die entsprechenden Funktionen erhalten waren und eingehalten werden und wie sich das Leben in einer Stadt wie Chandigarh gestaltet. Mit dem in Indien weit bekanntem Spitznamen „City Beautiful“ ist Chandigarh der Stolz vieler Inder*innen, oft auch wenn sie bisher nie selbst dort waren.
Geplant von dem europäischen Architekten Le Corbusier, wurde Chandigarh als neue Hauptstadt der Bundesstaaten Punjab und Haryana ab 1952 errichtet. Die geschätzte Einwohner*innenzahl im Jahr 2019 beläuft sich auf 1.150.000 Menschen, genauere Zahlen wird der nächste Zensus 2021 bringen. Chandigarh ist aufgeteilt in unterschiedliche Sektoren, die alle eine Größe von 1200x800m haben, nummeriert und verschiedenen Funktionen zugeteilt sind. Außerdem soll Chandigarh einen menschlichen Körper darstellen. Die Stadt wurde gewissermaßen als lebendiger Organismus geplant: Einzelne Teile der Stadt symbolisieren gewisse Körperteile – beispielsweise Sektor 1 mit dem Capitol-Komplex den Kopf.
Die Verkehrsarten sollen laut Plan deutlich voneinander getrennt sein, daher gibt es ein siebenstufiges Stadtstraßen-System, unter anderem bestehend aus der Straßenart V1 (Schnellstraße) und V7 (Fußwege und Fahrradwege). Vor Chandigarh habe ich in Indien noch nie Fahrradwege gesehen. Chandigarh soll die Zukunft Indiens widerspiegeln, besonders hinsichtlich der Modernität, Industrialisierung und Unabhängigkeit.
Lässt sich eine so klare Trennung der Funktionen wirklich umsetzen, kann eine so strikt geplante Stadt in der Realität funktionieren? Wie werden die Vorstellungen von Le Corbusier heutzutage umgesetzt? Alles Fragen, die ich mir vor unserem Besuch in der Stadt selber stellte. Außerdem war ich sehr gespannt auf einige der Gebäude in Chandigarh, da mich der brutalistische Stil, in dem diese errichtet wurden, sehr interessiert. Aufgrund der fortschreitenden Ausbreitung des Corona-Virus’ waren leider einige Bereiche der Stadt, wie der Capitol-Komplex, geschlossen und konnten nicht wie von uns geplant besichtigt werden. Das war ziemlich schade, weil ich persönlich sehr darauf gespannt war.
Ersatzweise besichtigten wir das Universitätsgelände, das Leisure Valley und einzelne Sektoren und begutachteten andere Teile der Stadt im Vorbeifahren aus unseren TukTuks. Beim Leisure Valley handelt es sich symbolisch um die Lungen der Stadt, eine acht Kilometer lange Aneinanderreihung von Grünflächen und Parks mit verschiedenen thematischen Schwerpunkten. Auch das Universitätsgelände zeichnet sich aus durch die für Chandigarh typische brutalistische Architektur.
Viele der Gebäude dort und in der gesamten Stadt waren in einem eher zerfallenen Zustand und es kam nicht das Gefühl auf, dass viele Menschen von Le Corbusiers Vision wussten und diese bewahren wollten. In meiner Vorstellung war die Stadt aber sehr ordentlich, strukturiert, sauber, vielleicht teilweise kühl. Im Vergleich mit anderen indischen Städten erscheint Chandigarh bestimmt um einiges sauberer, jedoch liegt trotzdem Müll auf den Straßen, die Gebäude sehen teilweise heruntergekommen aus und die Asphaltierung auf den Straßen ist brüchig. Trotzdem ließ sich an der Aufteilung und Nutzung der Stadt der ursprüngliche Plan noch deutlich erkennen.
Alle Sektoren sind mit Grünflächen ausgestattet, haben ein geradliniges Straßennetz und erfüllen eine primäre Funktion. Der Sektor 35, indem sich unser Hotel befand, beinhaltet vor allem Gastronomie und ist ausgestattet mit zahlreichen Restaurants, Cafés, teilweise auch mit vielen „westlichen“ Ketten wie Taco Bell oder McDonald’s, von denen ich einige zum ersten Mal in Indien gesehen habe. Sektor 17, welcher zum Einkaufen dient, beinhaltet diverse Einzelhandelsgeschäfte und wird kaum bewohnt, hat jedoch viel von dem erwarteten Flair mit der Zeit verloren, wirkt teilweise ausgestorben und heruntergekommen.
Weitere Sektoren dienen ausschließlich zum Wohnen, so auch Sektor 21. Hier finden sich höherpreisige moderne Wohngebäude, die Ausrichtung ist klar an Familien orientiert. Es gibt viele Spielplätze, Schulen, Einfamilienhäuser. In den Wohnblöcken findet man diverse hochspezialisierte Arztpraxen. Einzelhandel oder ähnliches gibt es sonst allerdings gar nicht. Die einzigen Einkaufsmöglichkeiten befinden sich alle entlang der großen Hauptstraße, die den Sektor durchquert. Dort sind diverse Händler, Stände und Geschäfte angesiedelt. Auch hier wird die Funktion klar eingehalten.
Insgesamt scheint die Vorstellung Le Corbusiers langsam zu verblassen, da weniger Menschen von seinen Plänen für Chandigarh wissen und viele der Gebäude mit der Zeit verkommen. Die Stadt wirkt weniger nüchtern und strukturiert als es die Theorie vermuten lässt, auch bedingt durch die belebten Straßen. Trotzdem werden die Sektoren noch für die vorgesehenen Funktionen genutzt und der Grundriss der Stadt ist weiterhin erhalten, sodass sich die klare Trennung auch räumlich erkennen lässt. Für indische Verhältnisse ist die Stadt ungewöhnlich sauber und grün und sowohl von der Geschichte, Planung und Anordnung in Indien einzigartig. Alle Menschen, mit denen ich in Chandigarh gesprochen habe, haben mir stolz und begeistert von ihrer „City Beautiful“ erzählt.
Sophie-Zoe Vogt