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22.03.2020: e-Kolkata für Jedermann

Walking in Kolkata (Calcutta) © keezi walks

– und jede Frau, jede/n Lehrende/n, StudentIn und SchülerIn. Ein weiterer Tag e-Exkursion. Die ersten beiden Tage stundenlanger e-Lehre hatten uns durchaus beansprucht. Zwar waren wir nicht den Herausforderungen des gelebten Alltags in indischen Megastädten ausgesetzt – der Enge und Nähe in wuseligen Gassen, der Hektik vollgepackter Metros, dem allgegenwärtigen Smog und Staub, dem durchdringenden Dauerlärm der Straße, guten und unangenehmen Gerüchen, der Stimmenvielzahl überall. Doch das stundenlange Sitzen vor den Rechnern hat auch seine Tücken: Man muss deutlich konzentrierter zuhören als im Seminarraum, lange allein auf den Bildschirm schauen, und selbst bei der distanzbasierten, meist telefonischen Gruppenarbeit kann man sich wenig bewegen. Der kurze Gang in die Küche für einen Kaffee oder indischen Chai (vielleicht auch dem dritten kleinen Snack?) verdient nicht, als „Bewegung“ geadelt zu werden.

Ein wirklicher Gang durch Kolkata ist eben durch nichts zu ersetzen. Oder vielleicht (fast) doch?

Wir befinden uns im Jahre 2020 n.Chr. Ganz Indien ist für den Zutritt von Ausländern gesperrt... Ganz Indien? Nein! Ein von kreativen Fotografen und Filmern bevölkertes Internet hört nicht auf, dem Eindringling Anschauungsmaterial zu bieten. Und das Leben und Arbeiten wird leichter für die neugierigen Reisenden, die sich einen anschaulichen Zugang zu den Vierteln und Märkten der indischen Metropolen und Megastädte verschaffen möchten.

Ein beeindruckend realer, fast zweistündiger gefilmter Gang durch die geschäftigen Viertel nordwestlich und nördlich des Maidan führt einem Kolkata fast so lebendig nahe als wäre man selbst dort. Die Filmdokumentation findet man im Internet unter dem Stichwort „Walking in Kolkata“[1]. Der Gang des Filmers führt von der Sudder Street in Colootola über Bowbazar, College Street und Ezra Road bis zum East Bengal Market am Fuß der Howrah Bridge[2]. Der neugierige Betrachter wird mitgenommen durch belebte, enge Gassen und Straßenmärkte, vorbei an hupenden Autos, knatternden Motorrädern, klingelnden Fahrradrikschas, laut ihre Waren anpreisenden Händlern, telefonierenden Passanten. Man geht vorbei an alten Tata-Bussen und „Ambys“ – der „Ambassador“-Taxilegende von Hindustan Motors -, an Waschplätzen, Hauseingängen, Bücherständen, unter Wäscheleinen, durch dunkle Unterführungen und Hinterhöfe. Man begegnet tausenden Menschen, Lastenträgern, Aktenträgern, spillerigen Fahrradrikschas vollbepackt mit schweren Jutesäcken und riesigen Kartonladungen. Töpferware, Obst, Gemüse, Gewürze liegen auf Tüchern auf dem schmalen Straßenraum aus, auf Holzkisten und push-cars, werden in Bauchläden getragen, auf den Schultern, dem Kopf. Lärm und Geräusche überall, nur keine Gerüche. Doch man ahnt sie, nicht nur auf dem Blumenmarkt. Man sieht und spürt, wie lebendig es zugeht in der Altstadt Kolkatas bis zum berühmten Mallik Ghat Flower Market.

Auch wenn wir natürlich nicht den ganzen Internetfilm gemeinsam anschauten, sondern ausgewählte Zeitmarkierungen ansteuerten, die unsere beiden Referenten uns zuvor ausgesendet hatten: Irgendwie waren wir alle virtuell „vor Ort“, konnten uns viele Situationen auch auf Basis unserer eigenen, in den Tagen zuvor selbst gesammelten Erfahrungen gut vorstellen. Eingebettet in ausgezeichnete Referate zur Geschichte Kolkatas, zu historischen und aktuellen Urbanisierungsprozessen, zum Zustand des urbanen Kulturerbes und der massiven Expansion in den urban fringe der Megastadt, erschloss sich ein Grundverständnis für die Stadtentwicklung des modernen Kolkata. Tiefer in die sozialen Verhältnisse kann man eindringen mithilfe von Dokumentationen wie etwa „Über Leben in Kolkata“, „Rethinking India’s Slum Resettlement Policy“ oder „#180sec Kolkata: über den Dächern der indischen Metropole“ des Goethe-Instituts in Kolkata. Um ein Verständnis für nicht-sichtbare und -visualisierbare bzw. schwer zu visualisierende Tiefenaspekte der Stadtentwicklung – wie etwa urbane Governance-Probleme, Multiakteurs-Netzwerke bei Entscheidungen zur Infrastrukturentwicklung, zu smart city-Programmen oder Prozessen von „urban informality from above“ – zu erlangen, wurde außerdem auf die Lektüre und Diskussion von Fachliteratur zurückgegriffen. Wir experimentierten mit verschiedenen Werkzeugen der e-Lehre und sammelten Erfahrungen, die uns nicht nur bei der Gestaltung des kommenden Sommersemesters in Zeiten von Corona und einer bis zunächst dem 20. April 2020 geschlossenen Universität zu Köln weiterhelfen werden.

Es gelingt also durchaus, in einer überlegten (und zeitintensiv vorzubereitenden) Mischung aus virtueller Anschauung, unterstützt von technisch-medialen Materialien, Selbststudium durch wissenschaftliche Lektüre und Treffen in digitalen Konferenzräumen selbst eine Exkursion ins ferne Ausland teilweise zu kompensieren. Bis zu bestimmten Grenzen …

Frauke Kraas

 


[1] https://www.youtube.com/watch?v=VxetycIW22A

[2] Simon Mund von unserer Exkursionsgruppe hat ihn visualisiert unter: https://www.google.com/maps/d/viewer?mid=1-fwfpd2WP0VDf81ul4K-OaAb_xrvPT4D&ll=22.584098251734165%2C88.34946526190186&z=17