Zechensiedlungen und Arbeiterkolonien im Ruhrgebiet
Um ein Gefühl für das Ruhrgebiet, seine Bewohner*innen, die Strukturen und die Geschichte zu bekommen, ist es hilfreich, sich das Wohnen und wohnliche Umfelder sowie deren Funktionen in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft anzuschauen. Denn Orte des Wohnens sind (bzw. sollten) Orte des Lebens sein. Sie sind Orte der Lebensweltgestaltung von Menschen in ihren zeitlichen Kontexten, geben darüber Auskunft und erlauben Rückschlüsse auf die Lebenswelten. In diesem Blog-Eintrag möchten wir uns einem Aspekt von Wohnen, nämlich dem historischen zu Zeiten der Industrialisierung im Ruhrgebiet nähern und unsere Wahrnehmung und Eindrücke davon auf Basis von vor Ort geführten Interviews mit Anwohner*innen beschreiben.
Zechensiedlungen und Arbeiterkolonien sind im Ruhrgebiet vielerorts entstanden, zu Teilen heute noch erhalten und werden weiterhin als Wohnobjekte genutzt. In der Geschichte der Industrialisierung des Ruhrgebiets lassen sich zwei chronologisch aufeinander folgende Phasen der Motivation zum Bau von Zechensiedlungen und Arbeiterkolonien nachzeichnen.
Ging es zuerst aufgrund der hohen Nachfragen primär um die Bereitstellung standortnaher Wohnorte für Arbeitskräfte (oft Männer, welche noch ohne ihre Familien der Arbeit wegen in das Ruhrgebiet zogen), folgte in einem zweiten Schritt eine bewusste Steigerung der Attraktivität dieser Siedlungen durch bauliche Besonderheiten. Aufgrund boomender Industrialisierung im Ruhrgebiet entstand eine Situation, in welcher es ein so großes Arbeitsangebot gab, dass Zechen und industrielle Betriebe mit einer hohen, fast schon tagesaktuellen Fluktuation von Arbeitskräften zu kämpfen hatten, da gerade Facharbeiter(*innen) gezielt für höhere Löhne von konkurrierenden Betrieben abgeworben wurden. Es mussten also, neben dem Aspekt konkurrenzfähiger Bezahlung, weitere Faktoren geschaffen werden, um Arbeiter(*innen) an eine Zeche bzw. einen Betrieb zu binden. Die Attraktivität des Wohnortes diente hierbei als einer der Schlüssel, um gegen die eben genannte Fluktuation vorzugehen. Denn Menschen, die sich in ihrem wohnlichen Umfeld wohlfühlen, mit ihren Familien zusammenleben, Erfüllung in Gemeinschaft und Nachbarschaft vor Ort fanden, waren weniger geneigt, bei dem erstbesten höheren Lohnangebot dies alles aufzugeben und woanders ganz neu anzufangen. Diese Bindungseffekte wurden auf unterschiedlichen Ebenen in den baulichen Gegebenheiten der Siedlungen und Kolonien direkt implementiert. Zu nennen wären z. B. Wohlfahrtsgebäude, wie sie in der Alten Kolonie im Stadtteil Eving, gelegen im Dortmunder Norden, zu finden sind, welche Ort für Versammlung, Vereinsleben, Bücherei, Einkaufsmöglichkeiten am Ort sowie Waschräume für die Bewohner*innen und deren Wäsche im Zentrum der Siedlung bot. Oder Aspekte, welche heute zwar als selbstverständlich für uns gelten, im Kontext der zeitlichen Entstehungsgeschichte (in diesem Fall 1912-1913) aber als außergewöhnlich zu bezeichnen sind, wie fließendes Zu- und Abwasser und eine Stromversorgung, mit welchem die Häuser der Kolonie Kirdorf (ebenfalls im Stadtteil Eving liegend) versehen waren.
An eben dieser Siedlung lässt sich auch eine weitere bauliche Besonderheit festmachen, welche uns verdeutlicht, wie Raum- und Siedlungsgestaltung auf die Qualität des wohnlichen Umfelds einwirken können. Die Kolonie Kirdorf, im Sinne der Gartenstadtbewegung erbaut, weist eine runde und räumlich geschlossen Struktur auf, welche auf der einen Seite (der Straße abgewandt) in den großen Innenflächen der Häuserblocks viel Platz für Landwirtschaft, Kleintierhaltung und damit auch ein Stück Selbstversorgung ermöglichte, und auf der anderen Seite der Häuser (der Straßen zugewandt) mithilfe der Straßenführung und Fassadenform einen großen aber räumlich geschlossenen Platz schafft, welcher in der Vergangenheit (und, aber in geringerer Häufigkeit heute) als Ort von Versammlung, Festen und sozialem Miteinander der Kolonie für Bewohner*innen diente und nicht nur baulich den Mittelpunkt der Siedlung darstellte.
Oft lassen sich solche Siedlungen in (wenigstens fußläufiger) Nähe zu den Zechen bzw. Industriestätten finden, da ein weiterer Hintergedanke hierbei war, dass Arbeiter*(innen) kurze Wege vom und zum Arbeitsplatz haben und somit z. B. auch in der Mittagspause die Möglichkeit bekommen sollten, schnell nach Hause zu gehen, dort zu Mittag zu essen und dann schnell wieder auf der Zeche oder im Werk zu sein. Dieser Aspekt kann sowohl für die Betriebe selbst als auch für die Arbeiter(*innen) als durchaus positiv und attraktiv bezeichnet werden, da Nutzen und Vorteile für beide Seiten galten.
Zwischen den einzelnen Siedlungen lassen sich Unterschiede feststellen. Diese sind auf verschiedene bauliche Epochen bzw. Bauzeiten zurückzuführen, aber auch auf die zum Zeitpunkt der Bebauung gegeben Bedingungen der vorgesehenen Siedlungsflächen.
So finden wir in der Kolonie Landwehr, an der westlichen Dortmunder Stadtgrenze gelegen und zu der Zeche Zollern zugehörig, eine sehr intakte und zusammenhängende Siedlungsstruktur, an welcher man den historischen und ursprünglichen Charakter heute noch ablesen kann. Dem gegenüber steht die Müsersiedlung, im Stadtteil Derne im Dortmunder Osten liegend und der Zeche Gneisenau zugehörig, welche genau diese Integrität und Struktur vermissen lässt, da es zu Bauzeiten Probleme bei der Landbeschaffung gab (Großbauern wollten ihr Land nicht an die Zeche verkaufen). Diese Siedlung entstand somit über dreißig Jahre und wuchs, eben immer dann, wenn wieder ein Stück Land zum Verkauf stand. Diese Fragmentierung und räumliche Trennung der Siedlungsgebäude hinterlässt heute auf den/die Betrachter*in ein gänzlich anderes Bild. Gerade im Vergleich zu Siedlungen wie Landwehr oder die in Essen gelegene Margarethenhöhe entsteht weniger ein Gefühl dafür, wie das Leben in solchen Siedlungen und Kolonien in der Vergangenheit gewesen ist und welche sozialräumlichen Funktionen auch von diesen erfüllt wurden und werden.
Allen Zechensiedlungen gemein sind die vorab schon angedeuteten großen Gärten zur Selbstversorgung, welche so heute noch zu finden sind und auch in Teilen ihre ursprüngliche Nutzfunktion erhalten haben. Ein weiterer Aspekt wohnlicher Qualität und sozialräumlicher Nutzung ist in der Integration von Trinkhallen in die Siedlungsstrukturen zu finden (z. B. in Kirdorf oder in Landwehr). Diese oft an zentralen Orten gelegenen Nahversorgungsmöglichkeiten gehen weit über eben jene Grundfunktion hinaus und bieten vielmehr einen zentralen Ort gesellschaftlichen und sozialen Lebens innerhalb der Siedlung, als Bündelpunkt von Klatsch, Tratsch und Informationsaustausch. Die Beständigkeit dieser lokalen Institutionen konnten wir auch als Erfahrung im Feld sammeln und erleben, wie wichtig diese zentralen Anlaufstellen für die Bewohner*innen sind und waren und wie weit über das Angebot eines herkömmlichen Kiosks die Funktion und Nutzungsweise solcher etablierten Trinkhallen geht.
So erzählte uns die Betreiberin einer Trinkhalle, selbst in der Kolonie Landwehr geboren und familiär über Generationen an den Standort gebunden, über das Leben früher und heute und machte uns mit der Nachbarschaft vertraut, sodass wir sehr schnell das Gefühl fremd zu sein ablegen und ein Stück (oberflächlicher) Zugehörigkeit fühlen konnten. Es wurden alte schwarz-weiß-Fotografien aus den Zeiten aktiven Bergbaus gezeigt und aus der Kindheit und dem Heranwachsen in einer Kolonie berichtet. Wir erfuhren dass die „Alten“ tagsüber von ihren Vorgärten und Fenstern über die Kinder wachten und diese ihre komplette Zeit draußen in den Gärten und auf den rund angelegten Festplätzen verbrachten. Ein Leben, geprägt von Gemeinschaft, harter Arbeit, fest eingespielten und erprobten Abläufen und Ritualen und Festen und Vereinswesen. Aber auch Geschichten über Veränderung und Wandlung mit der Zeit. Dass viele Familien seit Generationen in ihren Häusern wohnen oder Enkel früherer Bewohner*innen zurückkommen sind, sich die Gemeinschaft aber über die Jahrzehnte auch aufgelockert hat, zwar noch Feste gefeiert werden und Gemeinschaft und Zusammenhalt gepflegt werden, aber in einem anderen Umfang als noch zu Kindheitszeiten. Eine Beobachtung, welche so auch in der Kolonie Kirdorf in Gesprächen dargelegt wurde. Dass es zwar immer noch ein aktives Gemeinwesen und auch tradierte Feste und Vereine vor Ort gibt, diese aber im Laufe der Zeit weniger geworden sind, da vor allem durch Zuzug von außen Bewohner*innen ohne historischen Bezug zu dem Wohnort und ohne soziale und gesellschaftliche Einbindung in die Siedlungen gekommen sind.
Es bleibt also offen und spannend, wie sich solche Orte erlebbarer Geschichte aus Zeiten der Industrialisierung halten und behaupten werden, und wie aktiv an die Vergangenheit von Orten erinnert werden kann. Denn das Leben in solchen Zechensiedlungen war bunt, vielfältig und reichhaltig, und mit dem Wissen über die Vergangenheit lässt sich diese auch ein Stück weit in die Gegenwart transferieren, und vor allem an Orten wie der Margarethenhöhe (Essen), Landwehr (Dortmund) oder Kirdorf (Dortmund) authentisch und nachvollziehbar erleben. So hinterlassen diese Zeugnisse der Industrialisierungsgeschichte nachhaltige Eindrücke und man verspürt ein Verlangen, in der Zeit zurückzureisen, sich mit einem kühlen Pils an die örtliche Trinkhalle zu lehnen und in die Geschichte, den Alltag und das Leben der Bewohner*innen dieser Siedlungen einzutauchen.
06.04.2021, Jasper Rummeny